Unterhalt bei Aufnahme eines Studiums nach einer Lehre
BGH, Beschluss vom 8.3.2017 – XII ZB 192/16
Zum Sachverhalt
Dem BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Das Land forderte nachträglich vom Kindesvater Zahlung von Kindesunterhalt für die Vergangenheit. Es hatte der Tochter BAföG gewährt. Die Tochter hat zunächst die Hochschulreife erworben und unmittelbar im Anschluss daran eine Ausbildung zur Bankkauffrau angefangen, die sie drei Jahre später erfolgreich abschloss. Im Alter von 22 nahm sie ihr Studium auf.
Das AG Pirmasens (Beschluss vom 9.7.2015 – 3 F 265/14) hat den Zahlungsantrag abgewiesen, das OLG Zweibrücken (Beschluss vom 29.3.2016 – 5 UF 105/15) hat die Beschwerde zurückgewiesen, der BGH hat aber die Sache an das OLG zurückverwiesen. Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg.
Begründung:
Gemäß § 1610 Abs. 2 BGB umfasst der Unterhalt eines Kindes die Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf.
Geschuldet wird danach eine Berufsausbildung, die der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen des Kindes am besten entspricht und sich in den Grenzen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern hält. Eltern, die ihrem Kind eine solche Berufsausbildung gewährt haben, sind grundsätzlich nicht mehr verpflichtet, Kosten einer weiteren Ausbildung zu tragen. Ausnahmen hiervon bestehen nur unter besonderen Umständen, etwa wenn der Beruf aus gesundheitlichen oder sonstigen, bei Ausbildungsbeginn nicht vorhersehbaren Gründen nicht ausgeübt werden kann. Ferner kommt eine fortdauernde Unterhaltspflicht in Betracht, wenn die weitere Ausbildung zweifelsfrei als eine bloße in engem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehende Weiterbildung zu dem bisherigen Ausbildungsweg anzusehen ist und von vornherein angestrebt war, oder während der ersten Ausbildung eine besondere, die Weiterbildung erfordernde Begabung deutlich wurde.
Diese Grundsätze hat der Senat wegen des zunehmend geänderten Ausbildungsverhaltens der Studienberechtigten für die Fälle modifiziert, in denen ein Kind nach Erlangung der Hochschulreife auf dem herkömmlichen schulischen Weg (Abitur) eine praktische Ausbildung (Lehre) absolviert hat und sich erst danach zu einem Studium entschließt (sog. Abitur-Lehre-Studium-Fälle). Wegen des aus § 1610 Abs. 2 BGB abzuleitenden Merkmals der Einheitlichkeit des Ausbildungsgangs ist allerdings auch dann erforderlich, dass die einzelnen Ausbildungsabschnitte in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehen und die praktische Ausbildung und das Studium sich jedenfalls sinnvoll ergänzen müssen. Es reicht jedoch aus, dass der Studienentschluss nicht von vornherein, sondern erst nach Beendigung der Lehre gefasst wird, weil es gerade der Eigenart des vom herkömmlichen Bild abweichenden Ausbildungsverhaltens entspricht, dass sich der Abiturient bei Aufnahme der praktischen Ausbildung vielfach noch nicht über ein anschließendes Studium schlüssig ist.
Für Ausbildungsabläufe, in denen nach einem Realschulabschluss zunächst eine Lehre, dann die Fachoberschule und später die Fachhochschule absolviert wird, sind die einzelnen Ausbildungsabschnitte hingegen nur dann als einheitliche, von den Eltern zu finanzierende Berufsausbildung anzusehen, wenn schon bei Beginn der praktischen Ausbildung erkennbar eine Weiterbildung einschließlich des späteren Studiums angestrebt wurde. Hinter dieser Differenzierung steht der Gedanke, dass die Unterhaltspflicht der Eltern von der Frage mitbestimmt wird, inwieweit sie damit rechnen müssen, dass ihr Kind nach einem Schulabschluss und einer zu Ende geführten, in sich geschlossenen Berufsausbildung noch eine berufsqualifizierende Ausbildung – gegebenenfalls über weitere Ausbildungsstufen hinweg – anstrebt. Denn die Belange der Unterhaltspflichtigen dürfen insoweit nicht unberücksichtigt bleiben. Die Eltern müssen sich in ihrer eigenen Lebensplanung in etwa darauf einstellen können, wie lange sie mit einer Unterhaltslast zu rechnen haben.
In anderen Fällen als denen einer gestuften Ausbildung müssen die Eltern ihrem Kind ausnahmsweise auch eine zweite Ausbildung finanzieren, wenn sie das Kind in einen unbefriedigenden, seinen Begabungen nicht hinreichend Rechnung tragenden Beruf gedrängt haben. Dem gleichgestellt sind die Fälle, in denen dem Kind eine angemessene Ausbildung verweigert worden ist und es sich aus diesem Grund zunächst für einen Beruf entschieden hat, der seiner Begabung und seinen Neigungen nicht entspricht. Nichts anderes gilt, wenn die erste Ausbildung auf einer deutlichen Fehleinschätzung der Begabung des Kindes beruht.
Dabei begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, wenn die Frage, ob der Erstausbildung des Kindes eine Fehleinschätzung seiner Begabung zugrunde lag, nach den Verhältnissen beurteilt wird, die sich erst nach Beendigung dieser Ausbildung ergeben haben. Zwar ist die Frage der beruflichen Eignung eines Kindes grundsätzlich aus der Sicht bei Beginn der Ausbildung und den zu dieser Zeit zutage getretenen persönlichen Anlagen und Neigungen zu beantworten. Um eine unangemessene Benachteiligung von so genannten Spätentwicklern zu vermeiden, gilt dies aber schon dann nicht, wenn sich später herausgestellt hat, dass die zunächst getroffene Entscheidung auf einer deutlichen Fehleinschätzung der Begabung des Kindes beruhte.
Der aus § 1610 Abs. 2 BGB folgende Anspruch ist vom Gegenseitigkeitsprinzip geprägt. Der Verpflichtung des Unterhaltsschuldners zur Ermöglichung einer Berufsausbildung steht aufseiten des Unterhaltsberechtigten die Obliegenheit gegenüber, sie mit Fleiß und der gebotenen Zielstrebigkeit in angemessener und üblicher Zeit zu beenden. Zwar muss der Verpflichtete nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) Verzögerungen der Ausbildungszeit hinnehmen, die auf ein vorübergehendes leichteres Versagen des Kindes zurückzuführen sind. Verletzt dieses aber nachhaltig seine Obliegenheit, die Ausbildung planvoll und zielstrebig aufzunehmen und durchzuführen, büßt es seinen Unterhaltsanspruch ein und muss sich darauf verweisen lassen, seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit selbst zu verdienen.
Aus diesem Gegenseitigkeitsverhältnis folgt die Obliegenheit des Kindes, die Ausbildung in angemessener Zeit aufzunehmen. Auch ein Schulabgänger muss auf die Belange des Unterhaltspflichtigen Rücksicht nehmen und sich in angemessener Zeit darüber klar werden, welche Ausbildungsmöglichkeiten ihm nach seinem jeweiligen Schulabschluss zur Verfügung stehen. Er muss sich alsbald um einen entsprechenden Ausbildungsplatz bemühen und die Ausbildung zielstrebig beginnen. Zwar ist einem jungen Menschen eine gewisse Orientierungsphase zuzugestehen, deren Dauer von Fall zu Fall unterschiedlich ist und sich jeweils nach Alter, Entwicklungsstand und den gesamten Lebensumständen des Auszubildenden richtet. Je älter er indessen bei Schulabgang ist und je eigenständiger er seine Lebensverhältnisse gestaltet, desto mehr tritt an die Stelle der Elternverantwortung die Eigenverantwortung für seinen Berufs- und Lebensweg. Selbst wenn er bisher noch keine Berufsausbildung erfahren hat, kann eine lange Verzögerung dazu führen, dass sein Ausbildungsanspruch entfällt und er sich daher seinen Lebensunterhalt mit ungelernten Tätigkeiten oder aufgrund sonstiger Begabung und Fertigkeiten verdienen muss. Allerdings gibt es keine feste Altersgrenze für die Aufnahme einer Ausbildung, ab deren Erreichen der Anspruch auf Ausbildungsunterhalt entfällt. Die Frage, bis wann es dem Unterhaltsberechtigten obliegt, seine Ausbildung aufzunehmen, richtet sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls. Maßgeblich ist, ob den Eltern unter Berücksichtigung aller Umstände die Leistung von Ausbildungsunterhalt in den Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit noch zumutbar ist.
Im Rahmen dieser Orientierungsphase kann dem Kind gegebenenfalls auch ein Ausbildungswechsel unterhaltsrechtlich zuzugestehen sein, wenn er einerseits auf sachlichen Gründen beruht und andererseits unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aus der Sicht des Unterhaltspflichtigen wirtschaftlich zumutbar ist. Für die Annahme eines hinreichenden Grundes kann etwa der Umstand sprechen, dass zwischen der abgebrochenen und der angestrebten Ausbildung ein sachlicher Zusammenhang besteht. Jedem jungen Menschen ist grundsätzlich zuzubilligen, dass er sich über seine Fähigkeiten irrt oder falsche Vorstellungen über den gewählten Beruf hat. Dabei wird ein Ausbildungswechsel umso eher zu akzeptieren sein, je früher er stattfindet. Dies folgt aus dem Gedanken, dass die schutzwürdigen Belange des Unterhaltspflichtigen es gebieten, sich möglichst frühzeitig darauf einrichten zu können, wie lange die Unterhaltslast dauern wird. Diese Belange erfordern es grundsätzlich auch, dass das Kind sich über seine geänderten Ausbildungspläne mit dem Unterhaltspflichtigen zu verständigen versucht.
Die angefochtene Entscheidung wurde gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufgehoben, weil es nicht entscheidungsreif war. Das OLG muss weitere Feststellungen zu treffen haben, vor allem inwieweit sich die Banklehre als für das konkrete Studium nützliche und sinnvolle Vorbereitung darstellt. Dazu wird es auch den von der Rechtsbeschwerdeerwiderung zum Inhalt der Banklehre gehaltenen Tatsachenvortrag zu berücksichtigen sowie den Beteiligten gegebenenfalls vorab Gelegenheit zu ergänzendem Sachvortrag hinsichtlich der einzelnen Ausbildungsinhalte von Lehre und Studium zu geben haben.
Sollte das OLG danach einen engen sachlichen Zusammenhang bejahen, wird es den von den Beteiligten im Rechtsbeschwerdeverfahren angesprochenen Fragen nachzugehen haben, ob und inwieweit der Ag. im fraglichen Zeitraum leistungsfähig war und ihm die Unterhaltspflicht wirtschaftlich zumutbar ist. Zu berücksichtigen kann in diesem Zusammenhang auch sein, ob und in welchem Umfang der Ag. seine Tochter bereits während der Banklehre finanziell unterstützen musste.
Eigene Anmerkungen:
Der BGH hat wie so oft einen Mittelweg gefunden und vor allem auf die gegenseitige Rücksichtnahme zwischen Eltern und Kindern abgestellt. Auf der einen Seite haben die Eltern natürlich für ihre Kinder zu sorgen und diesen eine Ausbildung zu finanzieren. Die Kinder wiederum müssen zielstrebig ihre Ausbildung zum Abschluss bringen. Ein sorgloses Abbrechen einer Ausbildung kann dazu führen, dass die Kinder ihren Anspruch auf Finanzierung der Erstausbildung leichtfertig verspielen. Auf der anderen Seite dürfen die Eltern dem Kind nicht die Finanzierung verweigern, weil die Kinder nach dem Abitur eine Lehre anfangen und im Anschluss daran anfangen zu studieren. Diese Vorgehensweise der Kinder ist im großen Ganzen zu sehen und daher als EINE Ausbildung zu verstehen. Diese muss dann von den Eltern im Rahmen ihrer Möglichkeiten finanziert werden.