Haftung des Linksabbiegers, wenn er links überholt wird
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Unfallereignis vom 28.11.2011 auf der Bundesstraße aus Richtung G in Richtung W bei dem die Zeugin V in Ausübung ihrer Beschäftigung als Postzustellerin mit dem von ihr geführten Dienstfahrzeug mit dem vom Beklagten zu 1 geführten Kleintransporter kollidierte, als sie nach links in Richtung K abbiegen wollte und vom Beklagten zu 1 links überholt wurde.
Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme unter Zugrundelegung der auch von der Klägerin angenommenen Haftungsquote von 50% der Klage im Wesentlichen stattgegeben.
Die Beklagten wenden sich mit der Berufung gegen die Haftungsquote. Sie sind der Ansicht, dass vorliegend der Beweis des ersten Anscheins dafür spreche, dass die Zeugin V. ihre Pflichten beim Linksabbiegen verletzt habe, was zu einer Alleinhaftung dieser für die Unfallfolgen führe und verfolgen ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Die Berufung ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:
Der Unfall stellt sich weiter weder für die Zeugin V, noch für den Beklagten zu 1 als unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG dar. Unabwendbar i. S. d. § 17 Abs. 3 S. 1 StVG ist ein Ereignis, das auch durch äußerste mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann (BGH DAR 05, 263; BGHZ 117, 337). Dazu gehört sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den gewöhnlichen persönlichen Maßstab hinaus (BGH DAR 05, 263; NZV 91, 185), gemessen an den durchschnittlichen Verhaltensanforderungen ist das das Verhalten eines Idealfahrers (BGH NZV 1991, 185; 1992, 229). Weder die Zeugin V i noch der Beklagte zu 1 können mangels einer entsprechenden Beweisführung für sich in Anspruch nehmen, sich auf ein etwaiges Fehlverhalten des jeweils anderen eingestellt zu haben. Beide Unfallbeteiligte haben nicht das Verhalten eines Idealfahrer an den Tag gelegt.
Somit kommt es auf die Abwägung der Verursachung- und Verschuldensanteile der Unfallbeteiligten, Zeugin V und Beklagter zu 1, unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahren an, § 17 Abs. 2 StVG. Hierbei sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs neben unstreitigen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen.
Zulasten der Zeugin V ist dabei zunächst von einem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 StVO, insbesondere gegen ihre Pflicht zur doppelten Rückschau, § 9 Abs. 1 S. 4 StVO, auszugehen. Hierfür spricht – entgegen der Ansicht des Landgerichts – nach herrschender obergerichtlicher Rechtsprechung der Beweis des ersten Anscheins. Denn kommt es im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem Fahrzeug, welches links überholt, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für die Verletzung der Pflichten des Linksabbiegers aus § 9 Abs. 1 StVO und insbesondere für einen Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht (vgl. OLG Hamburg, Urt. v. 20.03.2012, Az. 15 U 15/12; KG Urt. v. 15.08.2005, Az. 12 U 41/05; KG Urt. v. 06.12.2004, Az. 12 U 21/04; OLG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 12.12.2008, Az. 6 U 106/08; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 9 StVO Rn. 55 m. w. N.). Danach hat derjenige, der links abbiegen will, vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten; ein etwaiges Fahrzeug, das überholen will und das bei der Rückschau gesehen wird, ist hierbei vor dem Abbiegen durchzulassen (vgl. König a. a. O., § 9 StVO Rn. 26, m. w. N.; OLG Frankfurt/M. VM 77, 46; OLG Düsseldorf VRS 64, 409).
Die doppelte Rückschaupflicht entfällt nach § 9 Abs. 1 S. 4 a.E. StVO nur, wenn die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn ein Linksüberholen technisch unmöglich ist oder wenn dies besonders grob verkehrswidrig wäre und deshalb auch bei größter Sorgfalt nicht voraussehbar ist, oder bei Gewissheit, dass der nachfolgende Verkehr das Abbiegen nach links erkannt hat (vgl. König, a. a. O., § 9 StVO Rn. 25 m. w. N.). All dies ist vorliegend nicht der Fall. Es handelte sich um einen Unfall im normalen Straßenverkehr zur Tageszeit, bei dem eine sichere Gefährdung nachfolgenden Verkehrs schon in Anbetracht der Geräuschlosigkeit von Fahrzeugen und ihrer Geschwindigkeit per se nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. König, a. a. O., § 9 StVO Rn. 25).
Der gegen die Zeugin V sprechende Beweis des ersten Anscheins ist auch nicht erschüttert.
Der Anscheinsbeweis kann nur durch bewiesene Tatsache ausgeräumt werden, welche die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs als den nach der allgemeinen Erfahrung typischen ergeben können (BGH VersR 1969, 859, 860; BGH NJW 1982, 2268). Derartige, zur Widerlegung des Anscheinsbeweises dienende Tatsachen, aus denen sich zwingend ergibt, dass sich die Zeugin V ‚ bei dem Abbiegevorgang so sorgfältig verhalten hat, wie das geboten war, hat die Klägerin nicht nachgewiesen. Ebenso wenig hat sie nachweisen können, dass der Beklagte zu 1 unfallverhütend hätte reagieren können und sich nicht verkehrsrichtig verhalten hat.
Zunächst kann der – unstreitige – Überholvorgang des Beklagten zu 1 als solcher die „Typizität“ der Anscheinsbeweislage nicht beeinträchtigen. Zulässiges und verkehrsgerechtes Überholen stellt – ebenso wie beispielsweise der bevorrechtigte Gegenverkehr – eine Grundvoraussetzung dafür dar, dass sorgfaltswidriges Abbiegen überhaupt zu einem Unfall, dann allerdings mit einer entsprechenden Anscheinsbeweislage führt (vgl. OLG Brandenburg, Urt. v. 26.09.2001, Az. 1 U 24/01; OLG Frankfurt a.M., NZV 2000, 211; OLG Nürnberg, NZV 2003, 89; OLG München, Urt. v. 23.01.2005, Az. 10 U 299/14, m. w. N.).
Der Anscheinsbeweis ist auch nicht erschüttert durch die Angaben der Zeugin V ‚•, dass sie vor dem Abbiegen links geblinkt, sich eingeordnet und erneute Rückschau gehalten habe. Dies ist erstinstanzlich gerade nicht bewiesen, sondern streitig geblieben und betrifft damit nicht das nach umfassender Sachverhaltsaufklärung und Beweiswürdigung festgestellte Kerngeschehen, sondern die Frage einer möglichen Erschütterung des Anscheinsbeweises, für welche die Klägerin darlegungs- und beweispflichtig ist. Der Anscheinsbeweis für Verkehrs- und sorgfaltswidriges Abbiegen entfällt aber nicht aufgrund der bloßen Behauptung, die notwendige Sorgfalt sei gerade beachtet worden (OLG München, Urt. v. 23.01.2015, Az. 10 U 299/14). Entgegen der Ansicht der Klägerin hat der Beklagte zu 1 auch nicht gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO (Überholen trotz unklarer Verkehrslage) verstoßen. Eine unklare Verkehrslage ist gegeben, wenn nach allen Umständen mit gefahrlosem Überholen nicht gerechnet werden darf (OLG Koblenz NZV 05, 413; OLG Saarbrücken VRS 106,171; König, a. a. O., § 5 StVO Rn. 34); dies ist etwa der Fall, wenn sich nicht beurteilen lässt, was der Vorausfahrende jetzt sogleich tun wird (vgl. OLG Koblenz, a. a. O.,), wenn es den Anschein hat, er wolle abbiegen, ohne dass dies deutlich wird (OLG Karlsruhe NZV 99,166; KG Berlin NZV 93, 232). Hier hat die Klägerin jedoch nach den nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen nicht den Beweis erbracht, dass die Zeugin V erstens überhaupt und zweitens rechtzeitig links geblinkt oder aber auch nur sich möglichst weit links eingeordnet hat. Für die Annahme einer unklaren Verkehrslage reicht aber allein der Umstand, dass das von der Zeugin V geführte Fahrzeug ggf. langsamer geworden ist und sich zum Fahrbahnrand orientiert hat, nicht aus (vgl. KG Berlin Urt. v. 12.07.2010, Az. 12 U 177/09). Auch ist die Verkehrslage nicht i. S. d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO unklar, wenn ein vorausfahrendes Fahrzeug vor einer linken Abzweigung auffallend langsam fährt, ohne sich links einzuordnen (vgl. BayObLG VRS 72, 295; 61, 61, 63; KG VRS 106, 173).
Nach der danach zugrunde zu legenden Beweislage ist von einer Haftungsquote zu 100% zulasten der Zeugin V- auszugehen. Im Rahmen der nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG zu treffenden Abwägung steht nämlich der grobe Verstoß der Zeugin V* gegen die für sie sich aus § 9 Abs. 1 StVO ergebende besondere Sorgfaltspflicht im Vordergrund. Die bloße Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten zu 1 tritt im Falle eines solchen Verstoßes gegen § 9 StVO grundsätzlich zurück (vgl. OLG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 12.12.2008, Az. 6 U 106/08, m. w. N.; KG Berlin, Urt. v. 01.02.1999, Az. 12 U 8772/97; KG Berlin NZV 2006, 309; OLG Nürnberg, NZV 2003, 89; OLG München, Urt. v. 23.01.2015, Az. 10 U 299/14; König, a. a. O., § 9 StVO Rn. 55).
Praxishinweis:
Der Linksabbieger haftet zum Einen dem ersten Anschein nach. Es ist bei einem Unfall nämlich davon auszugehen, dass er die doppelte Rückschaupflicht nicht eingehalten hat. Zum Anderen tritt die Betriebsgefahr (Haftung) des Überholenden hinter dem Verstoß des Linksabbiegers zurück.