Sorgerechtsverfahren bei Aufenthalt des Kindes in der Türkei
OLG Bremen, Beschluss vom 22.12.2015 – 4 UF 183/15
Bei dieser Entscheidung ging es um die Begründung eines neuen Aufenthaltsortes der Kinder im Ausland und der Frage, welches Gericht zuständig ist.
Sachverhalt:
Der Kindesvater begehrt im einstweiligen Anordnungsverfahren, ihm das alleinige Sorgerecht für seine beiden Kinder X und Y zu übertragen.
Die beiden Kinder sind aus der zwischen ihm und der Kindesmutter am 29.6.2007 geschlossenen Ehe hervorgegangen. Die Eheleute haben sich im November 2014 getrennt. Die Kindesmutter ist mit beiden Kindern im Einverständnis des Kindesvaters am 17.11.2014 in die Türkei gereist, um sich dort mit den Kindern für längere Zeit zu erholen. Der Kindesvater hat für einen Krankenversicherungsschutz der Kinder in der Türkei für die Dauer von sechs Monaten gesorgt und die Flüge der Kindesmutter und der Kinder in die Türkei bezahlt; Rückflüge wurden nicht gebucht. Nach Angaben des Kindesvaters hat die Kindesmutter ihm am 8.3.2015 telefonisch erklärt, dass sie mit den Kindern nicht nach Deutschland zurückkehren wolle.
Am 24.3.2015 hat der Kindesvater beim Amtsgericht – Familiengericht – Bremen beantragt, ihm die elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder zu übertragen. Außerdem hat er beim Amtsgericht Bremen einen Antrag auf Feststellung der Widerrechtlichkeit gemäß Art. 15 i. V. m. Art. 3 des Haager Übereinkommens vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) gestellt. Eine Widerrechtlichkeitsbescheinigung ist vom Amtsgericht Bremen am erlassen worden. Das ebenfalls vom Kindesvater angestrengte Rückführungsverfahren nach dem HKÜ ist noch nicht abgeschlossen. Nach Schilderung des Kindesvaters – die Kindesmutter ist bisher an dem vorliegenden Sorgerechtsverfahren nicht beteiligt worden – hat die Kindesmutter in der Türkei am 1.4.2015 eine Arbeit aufgenommen. Sie lebe in Ankara in beengten Verhältnissen zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem Bruder. Der Kindesvater hat weiter angegeben, er habe nach der Abreise seiner Ehefrau festgestellt, dass diese ihren gesamten Goldschmuck im Wert zwischen 3.000 bis 4.000 EUR mitgenommen habe.
Mit Beschluss vom 13.11.2015 hat das Amtsgericht – Familiengericht – Bremen nach mündlicher Anhörung des Kindesvaters am 9.9.2015 den Antrag auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge für die Kinder X und Y abgelehnt. Gegen diesen, seiner Verfahrensbevollmächtigten am 20.11.2015 zugestellten Beschluss wendet sich der Kindesvater mit seiner beim Amtsgericht Bremen am eingegangenen Beschwerde. Er beantragt, den Beschluss des Amtsgerichts vom 13.11.2015 aufzuheben und eine einstweilige Anordnung entsprechend dem Antrag vom 24.3.2015 zu erlassen, die elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder Y und X, auf den Kindesvater zu übertragen. Die Beschwerde des Kindesvaters ist zulässig, aber unbegründet.
Begründung:
Dem Antrag des Kindesvaters auf vorläufige Übertragung der alleinigen Sorge für seine beiden Kinder im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes kann schon allein deshalb nicht stattgegeben werden, weil es für diesen Antrag an der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte fehlt.
Da sich die beiden Kinder des Antragstellers seit dem 17.11.2014 in der Türkei befinden, liegt hier ein Verfahren mit Auslandsbezug vor. § 97 Absatz 1 FamFG bestimmt, dass Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen den Regelungen im FamFG vorgehen. Zwischen Deutschland und der Türkei als einem Nicht-EU-Mitgliedstaat ist in dem Fall das Minderjährigenschutzabkommen (MSA) anzuwenden, zumal die Türkei auch kein Vertragsstaat des Kinderschutzübereinkommens (KSÜ) ist, das die Regelungen des MSA verdrängen würde.
Die Regelung des Artikel 1 MSA begründet für Schutzmaßnahmen zugunsten eines Minderjährigen eine ausschließliche gerichtliche Zuständigkeit des Staates, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Bei Regelungen der elterlichen Sorge für ein Kind handelt es sich um eine Schutzmaßnahme im Sinne dieser Vorschrift.
Im vorliegenden Fall besteht – zumindest mittlerweile – der gewöhnliche Aufenthalt von X und Y in der Türkei. Ob bereits im Zeitpunkt der Antragstellung des Kindesvaters Ende März 2015 von einem gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder in der Türkei auszugehen war, kann dahinstehen. Denn es ist für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts abzustellen. Das MSA kennt keinen Grundsatz der perpetuatio fori, weshalb auch mit der Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthaltes im Laufe eines Verfahrens die Zuständigkeit der Behörden (Gerichte und Verwaltungsbehörden) am früheren Aufenthaltsort des Minderjährigen erlischt.
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes ist im internationalen Kindschaftsrecht nicht definiert. Bei der Begründung des gewöhnlichen Aufenthaltes im Sinne des Art. 1 MSA handelt es sich um einen rein faktisch geprägten Vorgang, der bei langer Verweildauer des Kindes und bei vollständiger Eingliederung in seine soziale Umwelt auch gegen den Willen des in seinem Sorgerecht verletzten Elternteils vollzogen werden kann. Somit ist die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes keine notwendige Voraussetzung für einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 1 MSA.
Kriterien für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthaltes sind u. a. die physische Präsenz in einem bestimmten Staat, die Dauer des Aufenthaltes, die soziale Integration und die dortigen familiären Bindungen sowie Sprachkenntnisse und Staatsangehörigkeit. Gerade bei noch sehr jungen Kindern wird angesichts der Notwendigkeit permanenter elterlicher Betreuung davon ausgegangen, dass sich ihr gewöhnlicher Aufenthalt von dem der Eltern ableitet. Im Übrigen entspricht es auch allgemeiner Lebenserfahrung, dass jüngere Kinder sich leichter und in kürzerer Zeit an eine neue Umgebung gewöhnen und daher bereits die Dauer des Aufenthaltes auf eine gewisse soziale Integration schließen lässt.
Im vorliegenden Fall haben sowohl X als auch Y mittlerweile ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 1 MSA in der Türkei.
Der erst zweijährige Y hat inzwischen fast die Hälfte seines bisherigen Lebens in der Türkei zugebracht, weshalb bezüglich seiner Person in jedem Fall von einem gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei auszugehen ist. Er lebt dort – ebenso wie sein vierjähriger Bruder – zusammen mit der Kindesmutter und deren Familie. Es bestehen somit familiäre und soziale Bindungen an seinem jetzigen Aufenthaltsort in der Türkei. Dies gilt ebenso für X, der mittlerweile ebenfalls über ein Jahr durchgehend in der Türkei in der Familie seiner Mutter und mit dieser zusammen lebt. Dass es sich bei der Türkei ebenfalls um den gewöhnlichen Aufenthaltsort der Kindesmutter handelt, ist daran fest zu machen, dass sie seit dem 1.4.2015 dort arbeitet, dass sie ausdrücklich gegenüber dem Kindesvater eine Rückkehr nach Deutschland abgelehnt hat und auch mittlerweile für Deutschland keine Aufenthaltserlaubnis mehr besitzen dürfte. Ein weiteres Indiz für ihren dauernden Aufenthalt in der Türkei ist auch darin zu sehen, dass sie nach den Angaben des Kindesvaters ihren gesamten Goldschmuck dorthin mitgenommen haben soll. Ob sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei bereits im März 2015 begründet hatte, kann angesichts dessen, dass im Rahmen des MSA der Grundsatz der perpetuatio fori nicht gilt, offen bleiben.
Ebenso kann im Rahmen der vorliegenden Entscheidung offen bleiben, ob die Kindesmutter zum Termin der mündlichen Anhörung am 9.9.2015 ordnungsgemäß geladen worden ist. Eine Terminladung ist ihr unter der Anschrift des Kindesvaters zugestellt worden, was angesichts ihrer bereits am 17.11.2014 erfolgten Ausreise in die Türkei keine ladungsfähige Anschrift mehr darstellen dürfte. Da aber auch bei ordnungsgemäßer Terminladung eine Entscheidung in der Sache nicht hätte ergehen können, da es an der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte im vorliegenden Fall fehlt, bedarf es diesbezüglich keiner abschließenden Klärung.